Mit dem Fahrrad in Marokko.
Ein Erlebnisbericht
Tag drei in Marokko,
eigentlich bin ich erst jetzt so richtig hier angekommen.
Bei mir dauert es immer etwas, bis ich mich an das Fremde
gewöhnt habe. Obwohl, Marokko ist nicht wirklich fremd für
mich, denn immerhin bin ich zum fünften Mal hier. So kalt
wie heute, war es allerdings bislang noch nie.
Doch fange ich von vorne an: Auf dem Weg zum Haus- und Hofflughafen
in Weeze-Laarbruch begleitet mich WDR 2 mit dem AC/DC - Klassiker
"Highway to Hell". Wohlgemerkt: WDR 2!
Mein Urlaub fängt gut an.
Das Rad der Zeit sei aber noch ein wenig weiter zurück gedreht.
Ankunft am Flughafen Marrakesch: Vor mir steht ein ziemlich
ramponierter Karton - dennoch geht es meinem Fahrrad gut.
Die Sonne ist gerade dabei abzutauchen. Gelänge es mir mein
Fahrrad schnell zum rollen zu bringen, könnte ich mit dem
letzten Licht des Tages sogar noch in die Stadt fahren und
hätte dem Taxifahrer keinen horrenden Preis zu zahlen. Mit
dem landestypischen Feilschen ginge es dann erst morgen los.
Der "marokkanische Nationalsport" benötigt zumeist viel Zeit,
von der die Einheimischen offenbar mehr besitzen als unsereins
und deshalb geben sie dabei auch stets ihr Bestes.
Am Tag zwei
Es geht von Marrakesch gegen den Wind nach Demnate. Bewusstes
Genießen gleich Fehlanzeige. Die körperliche Beanspruchung
ist nicht zu groß, ich funktioniere nur. Die noch frisch geölte
Kette surrt bei jeder Kurbelumdrehung und die 300 Höhenmeter
kurz vor Demnate hätten mir gerne erspart bleiben können.
Für die 104 Kilometer benötigte ich 355 Minuten. Brrr, eindeutig
zu viel...
Mein dritter Tag
Upps, die schneebedeckten Bergen vom Hohen Atlas sind bedrohlich
näher gekommen und nun beinahe zum Greifen nah. Ich trödele
morgens bei einer Temperatur im einstelligen Bereich und versuche
den Startschuss meiner heutigen Etappe durch frischen Pfefferminztee
hinauszuzögern. Doch es hilft alles nichts, ich muss los.
Die sechs Kilometer bergan bis zur Naturbrücke in Imi-n-Ifri
sind schnell abgespult. Hier soll sich der Verlauf meine Route
entscheiden. Geplant war, die geteerte Nebenstraße R307 zu
verlassen und den Hohen Atlas über Agouti mit den beiden Gipfelaufstiegen
Tizi-n-Ait-Imi (2910m) und Tizi-n-Ait Hamed (2915m) auf Maultierpfaden
zu überqueren.
Aber da stehe ich nun in meiner Unschlüssigkeit an der Abzweigung,
bin hin und her gerissen und erlebe dabei immer das gleiche
Schauspiel: Ich beobachte die Marokkaner und die Marokkaner
beobachten mich. Nach kurzer Zeit stehen acht Bauarbeiter
der staatlichen "Straßenbaumeisterei" um mich herum verteilt.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich war ihnen eine gute Gelegenheit
ihre Arbeit ruhen zu lassen. Das durch einen Bergrutsch auf
der Piste gelandete Geröll kann auch später von der Piste
geräumt werden. Ich werde freundlich zum Tee eingeladen, und
so sitzen wir bei pappsüßen Minztee beisammen und überlegen,
wie bzw. wohin es mit mir weiter gehen soll.
Ich erzähle von Agouti und den beiden Pässen. Die Strecke
nach Agouti wäre mit dem Fahrrad zwar fahrbar, allerdings
sehr schlammig, entgegnen sie, und die beiden Pässe Tizi-n-Ait-Imi
und Tizi-n-Ait Hamed seien wegen einer 2 Meter hohen Schneedecke
geschlossen. Mit meinem Piraten-Fahrrad unpassierbar. Nach
weitern zwei Gläsern Minztee fällt die Entscheidung: Weiter
geht´s auf dem Asphalt der R307.
Fast schmucklos kleben rissige Lehmdörfer an den ebenso lehmfarbenen
Berghängen. Menschen sind kaum zu sehen, hin und wieder ein
Autofahrer. Ich überhole Berbermädchen, die ihre Esel mit
nur einem Zweig lenken. Fast geheimnisvoll schwenken sie diesen
befehlend über die Eselohren. Im Tal plätschert der Fluss,
daneben wächst Gemüse auf winzigen Feldern, alles ist saftig
grün. Die Sonne wird schwächer, die Luft kühler. Die Mädchen
sind fast zu beneiden. Sie lassen sich auf dem Eselsrücken
nach Hause tragen, in der Gewissheit, dass dort ihr Schlafplatz
auf sie wartet. Ich bin dagegen eher in Richtung einer "gefühlten
Ungewissheit" unterwegs. Zumindest was mein Nachtlager angeht.
Es ist kurz nach achtzehn Uhr. Nun prasselt auch noch Regen
auf den letzten 6 Kilometern bis Ait Tamlil mit voller Wucht
auf den Asphalt und ich stehe völlig durchnässt vor dem Holzschild
"Gites d´Etape". Durch eine kleine Holztür betrete ich das
Innere eines der typischen Lehmhäuser. Eine Handvoll Kinder
und ein junger Mann haben mich schon entdeckt und begrüßen
mich freundlich. Gites d´Etape sind familiäre Unterkünfte
mit wenig Komfort, bieten dafür aber ein Mehr an marokkanischer
Romantik und Natürlichkeit.
Zum Abendessen gibt es eine landestypische Tajine. Für die
Zubereitung wird ein Tontopf mit spitzhaubigem Deckel verwendet,
in dem das Gericht direkt über der Holzkohle geschmort wird.
Lecker. Mir könnte es nicht besser gehen.
Dienstag, Tag vier
Heute morgen klammere ich mich nicht unnötig lange an eine
Tasse frischen Minztee. Ich will weiter. Das Fahrrad ist schnell
gepackt, das Omelett gegessen und los gehts. Allerdings lasse
ich mir den Wochenmarkt nicht entgehen, der von A wie Axt
bis Z wie Zahnbürste, alles zu bieten hat. Ich mache ein paar
Fotos und breche dann tatsächlich auf.
Der Himmel ist wolkenlos, allerdings liegt die Temperatur
nur knapp über dem Gefrierpunkt. Je höher die Berge, desto
mehr Schneereste säumen die Strecke. In den vereinzelt folgenden
Dörfern türmen sich im Schatten der Gassen riesige Schneeberge,
letzte Woche hat es hier über einen Meter Neuschnee gegeben.
Jedes der rar gesäten Dörfchen besitzt ein kleines Restaurant
und einen kleinen Shop. Meist völlig schmucklos, um nicht
zu sagen geschmacklos eingerichtet. Aber jedes Mal kann ich
meine Trinkflasche auffüllen, und darauf kommt es momentan
an. Und das Schönste ist: Jeder lacht mich an und ich fühle
mich gleichermaßen bestens angenommen wie aufgehoben. Selbst
das Fahren durch die weiß-grau-rosafarbenen Mondlandschaft
fällt nicht schwer, im Gegenteil: Gleichmäßiges Treten, gleichmäßiges
Atmen und immer dieselbe Kulisse führen eher dazu, dass ich
meine Erschöpfung nur noch auf einer untergeordneten Bewusstseinsebene
wahrnehme.
In Assermo verlasse ich dann endlich den Teerbelag der R307
und es geht bis Toundout auf losem Untergrund weiter. Grober
Schotter, loser Sand, mal überflutet, mal trocken - diese
Strecke zehrt an den Kräften. Hin und wieder blökende Schafe,
meckernde Ziegen. Eine Horde kleiner Jungen ruft mir "Donne-moi
un stylo!" ("Gib mir einen Stift") hinterher. Wer bringt ihnen
das hier in dieser Gegend nur bei? In meinem Reiseführer steht:
"Nehmen Sie ein bis zwei Kilo Stifte auf jede Marokkoreise
mit"! Nun weiß ich zwar warum, kann aber den Fragenden dennoch
keine Freude bereiten und radel den enttäuschten Jungs davon.
Zwischen Toundout und Skoura begegne ich erneut farbenfroher
Vegetation und endlich wird es auch wärmer. Der Hohe Atlas
mit den von mir pedalierten Pässen von über 2.700 Höhenmeter
ist bezwungen. Die schneebedeckten Berge werden kleiner und
aus der weiß-grau-rosafarbenen Mondlandschaft wird ein sandfarbiges
Wüstenplateau. Hier fängt die Sahara an. Endlich ist der hübsche
Oasenort Skoura mit seinen vielen Dattelpalmen erreicht. Ich
bin zufrieden, und am Abend stehen 112,6 Kilometer mit 1.684
Höhenmeter auf meinem Tacho.
Tag fünf,
auf der Strasse der Kasbahs… Die "Straße der Kasbahs" führt
- nomen est omen - an zahlreichen festungsartigen Lehmburgen
und Dörfern vorbei. Zum Teil sind sie verfallen, viele aber
auch noch gut erhalten. Früher wurden auf die Zinnen der Kasbahs
zum Schutz gegen böse Geister umgestülpte Töpfe und Straußeneier
gesetzt, jetzt verunstalten zahlreiche Satellitenschüsseln
die Dächer der Lehmburgen. Am Dades Fluss entlang soll es
heute bis nach Boumalne-du-Dades gehen. Die Landschaft huscht
in den ersten 108 Minuten wie ein Daumenkino an mir vorüber.
Und dann passiert es. Plötzliche Bewegung in der Magengegend,
mit einem Wort: durchFALL! Viermal Marokko hatten mich vorher
viermal mit des Touristen natürlichen und zugleich hartnäckigsten
Feindes verschont. Mein Stunden-kilometerdurchschnitt und
Reichweite tendieren fortan zur Lachnummer. Um kurz nach sechzehn
Uhr erreiche ich das heutige Etappenziel, zwanzig Minuten
später öffnet sich mir ein sauberes Zimmer und um 16:37 Uhr
liegt neben mir eine angefangene Packung Imodium in den Federn.
Die Nacht wird sehr lang, schlafen kann ich kaum. Wie auch.
Tag sechs,
ich fasse mein Fahrrad nicht an Imodium hat mir nicht wirklich
geholfen. Also rein in die nebenan liegende Apotheke. Mit
einer Handvoll getrocknetem Naturschlamm, verteilt in kleinen
Tüten, geht es behutsam zurück aufs Zimmer. Ob mir schließlich
Katharinas Gebet auf ihrem "Gebetsteppich" in Deutschland
in Richtung Mekka oder der Naturschlamm "Smecta" geholfen
hat, vermag ich nicht zu sagen. Fakt ist: Das Grummeln im
Magen ist deutlich reduziert.
Noch fünf Tage in Marokko Die Strecke über den Tizi-n-Tazazert
Pass nach Nekob habe ich von meiner "Wunschliste" gestrichen,
in fünf Tagen wartet schon der Flieger in Marrakesch auf mich.
Es geht auf der Strasse der Kasbahs im Schneckentempo wieder
zurück. Leider doch kein Wüstensand unter meinen Stollenreifen.
Ouarzazate lautet mein heutiges Ziel. Anstrengend ist die
Fortbewegung und nach 22 km ist am Taxistand in El Kelaa Schluss.
Mit dem fest verschnürten Fahrrad auf dem Dach, geht es per
Taxi abenteuerliche 93 km Richtung Ouarzazate. Erst jetzt
spüre ich, wie warm es heute ist. Die Temperatur liegt deutlich
über 26 Grad.
Achter Tag
Drei Tage durchFALL haben Kraft und Zeit gekostet und ich
fühle mich noch nicht wirklich fit. Also zaubere ich einen
weiteren Plan B aus dem Ärmel. Eine Rückreise nach Marrakesch
über den Hohen Atlas mit meinem Mountainbike wieder auf marokkanischem
Asphalt? Ich bewege doch ein Mountainbike und kein Asphaltflitzer!
Da aber Fahrrad- und Taxifahren hier im Land gemeinsam problemlos
harmonieren, werde ich auf dem Rückweg nach Marrakesch ein
wenig schummeln. Ich bleibe noch einen Tag länger in Ouarzazate
und spare mir den asphaltierten Anstieg auf den 2.260 Seehöhe
gelegenen Tizi-n-Tichka-Pass auf der Hauptstrasse P31.
Fahre dafür aber ohne Gepäck nach Ait Ben Haddou hin und zurück.
Auf den heute 67 gefahrenen Kilometer lege ich maximal 4 km
auf Asphalt zurück. Also volle Konzentration auf der Steinwüstenpiste
am Lenker, denn es rattert und klimpert am ganzen Bike, als
wolle das Fahrzeug gleich in alle Einzelteile zerfallen. Mit
einem verschwitzen Lächeln und verstaubtem Körper lande ich
irgendwann an einem Fluss. Auf der anderen Seite das alte
Ksar (befestigte Dorf), das als Weltkulturerbe unter dem Schutz
der UNESCO steht. Zu Fuß über Trittsteine und Sandsäcke erreiche
ich Ait Ben Haddou. Das Lehmdorf ist ein Labyrinth aus Häusern,
Türmen und Speichern. Die traditionell errichteten Häuser
liegen ineinander und übereinander verschachtelt am Berghang.
Wenn nur halb so viele Touristen hier wären, wäre es ein wahrhaft
traumhafter Platz. Da ich niemals den gleichen Weg wieder
zurück fahre, durchquere ich abenteuerlich und bis zur Hüfte
versinkend den Fluss vor mir. Das Ganze gleicht eher einem
kompletten Tauchgang und triefendnass entsteige ich dann auch
den Fluten. Auf einer blühenden Buckelpiste geht es gut gelaunt
zurück nach Ouarzazate.
Neunter Tag
Als sich am Morgen die Sonne über die Berge des Atlasgebirges
erhebt, ertönt von allen Seiten der Ruf des Muezzin. Er mahnt
die Gläubigen zum Gebet - die Stadt erwacht. Ein Taxifahrer
kutschiert mich samt Fahrrad auf dem Dach an giftgrünen Wiesen
vorbei über den 2.260 Seehöhe gelegenen Tizi-n-Tichka-Pass
auf der Hauptstrasse P31 nach Taddert.
Die letzten Abfahrten, auch wenn sich das mühelose Sausen
ein bisschen wie Betrug anfühlt, der Fahrtwind hat keine schweißnasse
Haut von der Anstrengung zu kühlen, so habe ich doch jeden
meiner letzten 96 km nach Marrakech genossen…
Meine letzten beiden Tage Ich bin zurück in Marrakesch! Die
Stadt, die dem Land Marokko als Namenspatron dient. Als die
"über den Atlas geworfene Perle des Südens" wird sie von einem
alten arabischen Dichter bezeichnet - und in der Tat ist die
von einem breiten Palmengürtel umgebene Königsstadt am Nordrand
des Atlasgebirges, eine der schönsten Städte des Landes überhaupt.
Tradition und Moderne treffen allerorten aufeinander.
Inmitten der Medina schlägt das Herz der Metropole: Der Djemaa
el Fna, der "Platz der Geköpften". Dort, wo früher blutig
Gericht gehalten wurde, herrscht heute ursprüngliches orientalisches
Treiben. Wie im arabischen Mittelalter führen hier die Gaukler
ihre Kunststücke vor. Der Djemaa el Fna ist der lebendigste
Platz Marokkos, ja vielleicht ganz Nordafrikas. Schlangenbeschwörer
zeigen ihre magischen Künste, Märchenerzähler erzählen alte
Geschichten - jeder wird hier von der besonderen Stimmung
"gefesselt" und träumt von Märchen von 1001 Nacht.
Ein letztes Glas pappsüßer Minztee, gleich geht es zum Flughafen.
Meine Zeit in Marokko war anders geplant. Ich wollte über
Maultierpfaden den Hohe Atlas überqueren, Wüstensand "schmecken",
in einer Oase übernachten - es sollte diesmal nicht so sein.
Als Vorbereitung der diesjährigen Bike Transalp waren die
Tage aber doch gut. Marokko, ich werde wiederkommen…
Nils Gieskes